Der Handstand auf der Loreley

Der Handstand auf der Loreley (Nach einer wahren Begebenheit) ist eine 1932 in dem Gedichtband Gesang zwischen den Stühlen erschienene, ironische Ballade von Erich Kästner in fünfhebigen Jamben.

Vordergründig eine Parodie auf Heinrich Heines Gedicht Die Lore-Ley macht sich Kästner vor allem über falschen Romantizismus und die nationalistisch radikalisierte Turnbewegung lustig. Wie in Clemens Brentanos Ballade Lore Lay, auf die Heines Gedicht zurückgeht, stürzt die Hauptfigur selbst von der Klippe: Während der Rhein schon lange kanalisiert ist und auch der Loreleyfelsen eher prosaisch geschildert wird, lässt sich der vom nationalen Mythos verblendete Turner dazu hinreißen, für ein im Grunde lächerliches Ziel sein Leben zu riskieren.[1]

Hintergrund

Durch seinen – vordergründig – sachlichen Stil ist das Gedicht typisch für Kästner, der meist der Neuen Sachlichkeit zugeordnet wird. Wie bei anderen Gedichten (z. B. Weihnachtslied, chemisch gereinigt, Die Ballade vom Nachahmungstrieb) vermeidet Kästner einen erhobenen Zeigefinger. Stattdessen will er seine Wirkung auf sarkastische und stellenweise zynische Weise erreichen: „Ein Augenblick mit zwei gehobnen Beinen ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt“. (Abwandlung eines Zitats aus Schillers Don Karlos: „Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt.“)

Kästner, ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus, kritisiert die Deutschtümelei seiner Zeit und den unreflektierten, übertriebenen Heldengedanken. Die formale Ähnlichkeit zum Horst-Wessel-Lied kann als ironischer Verweis auf die Heldenverehrung der Nationalsozialisten verstanden werden.[2]

Die Anmerkung „Nach einer wahren Begebenheit“, die Kästner dem Titel Der Handstand auf der Loreley hinzugefügt hat, steht in einer Tradition häufiger Titelzusätze in Kästners früher Lyrik. Sie dienen zumeist dazu, den Leser auf das Gedicht vorzubereiten und sein Textverständnis zu erleichtern, ganz im Sinne einer leicht zugänglichen Gebrauchslyrik. Dieses Gedicht ist hierbei eine Ausnahme, indem der laut Michael Ansel „keineswegs ganz ernst gemeinte Authentizitätshinweis“ zum Nachdenken über den Inhalt des Gedichts und seinen Hintergrund anregen soll, also eher Fragen aufwerfen als das unmittelbare Verständnis fördern soll. Ansel verweist auf einen zeitgeschichtlichen Bezug, der Kästner zu dem Gedicht inspiriert haben könnte. Laut Horst Johannes Tümmers habe der Turngau Süd-Nassau zu Beginn der 1920er Jahre auf dem Loreley-Felsen eine Halle und diverse Turngeräte errichtet, und tatsächlich soll ein Turner im Übermut einen Handstand an der Felskante versucht haben.[3] Für Georg Kreisler liegt der Sinn des Zusatzes vor allem darin, den Ernst der Ballade trotz ihres ironisch-humoristischen Tonfalles zu unterstreichen.[4]

Adaptionen

Das Gedicht Der Handstand auf der Loreley wurde 2004 von der deutschen Band Die Streuner auf dem Album Fürsten in Lumpen und Loden vertont.

Einzelnachweise

  1. Stefan Neuhaus: Grundriss der Literaturwissenschaft. UTB, 2009, ISBN 3825224775.
  2. Markus Möwis: Falsches Heldentum. Erich Kästner, Horst Wessel und „Der Handstand auf der Loreley“. Studienarbeit an der Universität Koblenz-Landau, WS 2013/14 (PDF-Datei).
  3. Michael Ansel: Annotierte Lyrik. Die Funktion der Titelzusätze und Anmerkungen in Kästners Gedichtbänden der Weimarer Republik. In: Silke Becker, Sven Hanuschek (Hrsg.): Erich Kästner und die Moderne. Tectum, Baden-Baden 2017, ISBN 978-3-8288-6700-0, S. 102–103
  4. Georg Kreisler: Angstgeschrei von allen Dampfern. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie Band 15. Insel, Frankfurt am Main 1992, S. 173. Nach: Markus Möwis: Falsches Heldentum. Erich Kästner, Horst Wessel und „Der Handstand auf der Loreley“. Studienarbeit (PDF-Datei).
Werke von Erich Kästner

Romane und Erzählungen:
Emil und die Detektive | Pünktchen und Anton | Fabian. Die Geschichte eines Moralisten | Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee | Das fliegende Klassenzimmer | Drei Männer im Schnee | Emil und die drei Zwillinge | Die verschwundene Miniatur | Der Zauberlehrling | Der kleine Grenzverkehr | Das doppelte Lottchen | Die Konferenz der Tiere | Der kleine Mann | Der kleine Mann und die kleine Miss | Der Gang vor die Hunde

Lyriksammlungen:
Herz auf Taille | Lärm im Spiegel | Ein Mann gibt Auskunft | Arthur mit dem langen Arm | Das verhexte Telefon | Gesang zwischen den Stühlen | Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke | Die 13 Monate

Einzelne Gedichte:
Weihnachtslied, chemisch gereinigt | Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? | Jahrgang 1899 | Sachliche Romanze | Kurt Schmidt, statt einer Ballade | Die Ballade vom Nachahmungstrieb | Das Eisenbahngleichnis | Der Handstand auf der Loreley

Nacherzählungen:
Till Eulenspiegel | Der gestiefelte Kater | Münchhausen | Die Schildbürger | Don Quichotte | Gullivers Reisen

Hörspiel und Theater:
Leben in dieser Zeit | Die Schule der Diktatoren | Klaus im Schrank oder Das verkehrte Weihnachtsfest

Textsammlungen:
Das Schwein beim Friseur | … was nicht in euren Lesebüchern steht

Autobiographisches:
Als ich ein kleiner Junge war | Notabene 45